
In meiner Arbeit als therapeutische Mentorin, Schreibbegleiterin und Kunsttherapeutin faszinieren mich vor allem immer die Momente, die schwer in Worte zu fassen sind. Oft geht es bei den Themen meiner Klient*innen um Übergänge oder das „Dazwischen“. Krisen und unerwartete Situationen werfen uns häufig in unbekanntes Terrain, wir befinden uns plötzlich in einem solchen Zwischenraum.
Übergänge sind jedoch durch ihre komplexe Dynamik und Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet. Mit traditionellen wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden bestimmte Wirkfaktoren zu beweisen, ist daher ein herausforderndes Feld. Denn vieles was in der Kunst und im kreativen Prozess wirkt ist von subjektivem Erleben geprägt, und in (Fall-)Dokumentationen selten umfassend darstellbar. Subjektiv Erlebtes kommunizierbar und für andere erlebbar zu machen ist ein Thema, was mich aus diesem Grund sehr beschäftigt. Ob Stimmungen, eine Atmosphäre, räumliches Empfinden oder die Wirkung einer Bewegung – diese Nuancen nutze ich in meiner eigenen künstlerischen Arbeit und Reflexion. Dabei sehe ich vor allem Übergänge als ein spannendes Feld. Mit Übergängen meine ich sowohl zeitliche als auch räumliche Übergänge und Zwischenräume.
Im Japanischen gibt es dazu das Konzept des Ma – eine Art Stille und Zwischenraum, welches sich sowohl in der Sprache als auch auf anderen Alltagsebenen äußert. Es geht um eine Form der Räumlichkeit und Zeitlichkeit, die schwer in Worte zu fassen ist. In der japanischen Kultur spielen Rituale noch eine große Rolle, die in der westlichen Gesellschaft sehr selten geworden sind bzw. einen nicht allzu großen Raum einnehmen.
Rituale sind wichtig, denn sie erleichtern und gestalten Übergänge. Der Aspekt der Transzendenz, des Überschreitens, ist wesentlich für Rituale. In der Kirche findet dies in Bezug auf Diesseits – Jenseits, Himmel und Erde statt. In Ritualen werden die Übergänge sinnlich wahrnehmbar, in Gebeten, Gesängen, Klängen und Düften. Rituale geben Beständigkeit in einer sich ständig verändernden Welt. Das Individuum wird sich im Ritual der Tatsache bewusst, Teil von etwas zu sein. Rituale bringen Ordnung, stiften Begegnung und Beziehungen. Ein paar spannende Gedanken zum Thema Rituale stellt Han (2019) in seinem Buch vor – hier zwei Zitate:
“Rituale sind Verkörperungs-Prozesse und Körperinszenierungen. Die gültigen Ordnungen und Werte einer Gemeinschaft werden körperlich erfahren und verfestigt. Sie werden dem Körper eingeschrieben, inkorporiert, das heißt körperlich verinnerlicht. So bringen die Rituale ein verkörperlichtes Wissen und Gedächtnis, eine verkörperlichte Identität, eine körperliche Verbundenheit hervor. Die rituelle Gemeinschaft ist eine Körperschaft. Der Gemeinschaft als solcher wohnt eine körperliche Dimension inne. Die Digitalisierung schwächt insofern die gemeinschaftliche Bindung, als von ihr eine entkörperlichende Wirkung ausgeht” (Han, 2019, S. 20).
“Denkbar ist eine rituelle Wende, in der wieder der Vorrang der Formen gilt. Sie kehrt das Verhältnis von innen und außen, von Geist und Körper um. Körper bewegt Geist und nicht umgekehrt. Nicht Körper folgt Geist, sondern Geist folgt Körper. Man könnte auch sagen: Medium erzeugt Botschaft. Darin besteht die Kraft der Rituale. Äußere Formen führen zu inneren Veränderungen. So haben rituelle Gesten der Höflichkeit mentale Auswirkungen” (Han, 2019, S. 31).
Literatur:
Han, B. C. (2019). Vom Verschwinden der Rituale: Eine Topologie der Gegenwart. Berlin: Ullstein