
Menschen kommt in schwierigen Lebenssituationen und in Krisen oft der Sinn abhanden. Was aber bedeutet Sinn? In diesem Artikel gehe ich einleitend auf das Thema ein, in dem ich mich auf die Perspektive von Viktor Emil Frankl (nachfolgend Viktor Frankl oder Frankl genannt) beziehe.
Viktor Frankl versteht das existenzielle Streben nach Sinn im Leben als primäre Motivationskraft des Menschen (Frankl‚ 2002). “Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie”, ist ein bekannter Leitsatz von Frankl, welcher ursprünglich Friedrich Nietzsche zugeordnet wird, und verdeutlicht, dass mit Sinn das “Warum” gemeint ist. Keinen Sinn zu sehen führt zu Hoffnungslosigkeit, Apathie und Antriebslosigkeit. Diesen Sinn für sich selbst zu entdecken ist eine wichtige Voraussetzung, um aktiv am Leben teilhaben zu können. Sinn ist ein wichtiger Teil von Gesundheit und Wohlbefinden.
Sinn und Hingabe
Laut Viktor Frankl (1975) hat Sinn mit Hingabe zu tun: Seine Theorie besagt, dass sich in der Hingabe zu etwas Sinn erleben lässt. Er bringt in diesem Zusammenhang den Begriff der Selbst-Transzendenz ins Spiel: „Was ich unter Selbst-Transzendenz verstehe, hat nichts mit Jenseits zu tun, sondern bedeutet, dass der Mensch um so menschlicher ist, dass er umso mehr er selbst ist, als er sich selbst übersieht und vergisst, sei es in der Hingabe an eine Aufgabe, an eine Sache oder an einen Partner“ (Frankl, 1975, S. 66).
Sinn in Wohlstandsgesellschaften
Nicht nur in Momenten der extremen Not stellen sich Menschen die Frage nach Sinn. Insbesondere in Wohlstandsgesellschaften ist die Sinnfrage ein großes Thema (Frankl, 1991). Er sieht dies begründet darin, dass es in Wohlstandsgesellschaften in erster Linie um die Befriedigung von eigenen Bedürfnissen geht, und darin lässt sich kein Sinn erleben. Denn Sinn tritt nur in Verbindung zu etwas oder jemanden auf. So kommt es, dass der Willen zum Sinn in Wohlstandsgesellschaften häufig leer ausgeht. In der modernen Welt werden Bedürfnisse sogar gezielt “erzeugt”: In Marketingkampagnen wird mit psychologischen Tricks gearbeitet, um Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen, indem beim Konsumenten ein Gefühl des Mangels oder es Haben-Wollens entsteht, welches ihn zum Kauf animieren soll. So werden “fremde” Bedürfnisse erzeugt, um deren Befriedigung sich der ausgelieferte Konsument nun sorgt.
Lust als Ersatz für Sinn
In seinem Buch “der Wille zum Sinn” legt er dar, dass Bedürfnisse wie Lust und Macht oft als Folge der Frustration des Willens zum Sinn entstehen (Frankl, 1985, S. 17f). “Lust an sich ist nichts, was dem Dasein Sinn zu geben vermochte (…) Glück soll und darf und kann nie ein Ziel sein, sondern nur das Ergebnis” (Frankl, 25 2020, S. 13). Auch in seinem Buch “Neurosenlehre und Psychotherapie” geht er auf den Zusammenhang zwischen Lust und Sinn ein: “Gerade dann und dort, wo der Wille zum Sinn unerfüllt bleibt, [dient] der Wille zur Lust dazu (…), die existentielle Unerfülltheit des Menschen zumindest für sein Bewusstsein zu betäuben. Mit anderen Worten: Der Wille zur Lust tritt erst dann auf den Plan, wenn der Mensch mit seinem Willen zum Sinn leer ausgeht” (Frankl, 2007, S. 156).
Sinn des Augenblicks und (Selbst)Verantwortung
Dabei ist ihm wichtig herauszustellen, dass es den allgemeinen Sinn des Lebens nicht gibt, sondern dass er sich von Moment zu Moment, von Mensch zu Mensch unterscheidet. Es geht nach Frankl nicht darum, das Leben zu befragen, indem wir ihm (oder uns) die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen, sondern dem Leben zuzuhören, weil es in jedem Augenblick Fragen an uns stellt. Unsere Aufgabe – und Verantwortung – ist es, uns auf die Rolle des Befragten einzulassen, und zu antworten: “Leben heißt nichts anderes als Befragt-Sein, all unser Sein ist nichts weiter als ein Antworten – ein Ver-Antworten des Lebens. In dieser Denkposition kann uns (…) nichts mehr schrecken, keine Zukunft, keine scheinbare Zukunftslosigkeit. Denn nun ist die Gegenwart alles, denn sie birgt die ewig neue Frage des Lebens an uns” (Frankl, 2020, S. 36). Frankl nennt in diesem Zusammenhang den Begriff des Sinn des Augenblicks (Frankl, 2020, S. 37), denn er vertritt die Ansicht, dass sich die Fragen die das Leben stellt von Moment zu Moment unterscheiden, d.h. nur in der Gegenwart offenbaren, und deshalb auch nur in der Beantwortung der sich in der Gegenwart stellenden Fragen der Sinn des Augenblicks verwirklicht werden kann (Frankl, 2020, S. 37). Gleichzeitig macht er mit dieser Aussage die Selbstverantwortung zum Thema. “Die Antworten (…) die wir dem Leben auf seine konkreten Fragen geben müssen können (…) nicht (…) in Worten bestehen, sondern nur (…) in unserem Tun, mehr als das: eben in unserem Leben, in unserem ganzen Sein! Die Fragen des Lebens lassen sich nur beantworten, (…) indem wir je unser Leben verantworten” (Frankl, 2020, S. 88). Diese Verantwortung kann der Mensch auf drei Wegen zeigen: Erstens, “indem er irgendetwas tut, indem er handelt, indem er etwas erschafft – indem er ein Werk verwirklicht; zweitens (…) indem er etwas erlebt – Natur, Kunst, Menschen (…)” (Frankl, 2020, S. 64); und drittens, wenn weder ersteres noch zweiteres möglich sind, indem er “zu der unabänderlichen, schicksalhaften, unausweichlichen und unvermeidlichen Einschränkung seiner Möglichkeiten Stellung nimmt, wie er sich zu ihr einstellt, zu ihr verhält, wie er dieses Schicksal auf sich nimmt” (Frankl, 2020, S. 64). Zwischen Reiz und Reaktion liegt immer ein Raum, in dem wir die Wahl haben, zu entscheiden, wie wir reagieren. Manchmal liegt der einzige Weg sich zu entscheiden darin, etwas zu akzeptieren wie es ist – nämlich dann, wenn wir nicht in der Lage sind, etwas an einer Situation (z.B. Gefangenschaft) oder unserem Zustand (z.B. Erkrankung) zu (ver)ändern. Je nach Lebenslage, die er “Forderungen der Stunde” nennt (Frankl, 2020, S. 64), ist es notwendig, “die Richtung solcher Sinnerfüllung jeweils zu ändern”. Auch hier tritt die Selbstverantwortlichkeit wieder in den Vordergrund.
Literatur:
Frankl, V. E. (1975). Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Bern,
Stuttgart, Wien: Hans Huber Verlag.
Frankl, V. E. (1985). Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn: Eine Auswahl aus
dem Gesamtwerk. München: Piper.
Frankl, V. E. (1991). Der Wille zum Sinn (4. Aufl.). München: Piper.
Frankl‚ V. E. (2002). Die Sinnfrage in der Psychotherapie. München: Piper.
Frankl, V. E. (2007). Neurosenlehre und Psychotherapie – Einführung in Logotherapie und Existenzanalyse (9. Aufl.). München: Ernst Reinhardt Verlag.
Frankl, V. E. (2020). Über den Sinn des Lebens (3. Aufl.). Weinheim: Beltz.